Vermintes Gelände
Begegnung mit Christen im Irak
Mit leichtem Handgepäck, dringend benötigten Medikamenten und Gastgeschenken machen wir uns am Abend des 22. Januar auf den Weg in den Irak. Mit dabei sind Frank Paul, und Gottfried Spangenberg, ehemaliger Schulleiter im Libanon. Wir landen außerhalb der kurdischen Hauptstadt Erbil in einem modernen Flughafen von überschaubarer Größe und wissen sofort: Im Land ist Terroralarm! Ein überdimensioniertes Werbeplakat ruft zum Kampf gegen den Terrorismus auf (inkl. Hotline), und zum nahen Gebäude kommen wir nur per Bus – um Auto-Attentate auszuschließen.
Nach dem Hürdenlauf durch unzählige Sicherheitsschleusen bringt uns ein Taxi ins nördlich gelegene Dohuk. Kürzer wäre es über Mossul, aber wegen andauernder Kämpfe zwischen der irakischen Armee und dem „Islamischen Staat“ (IS) nehmen wir die Strecke über die Landstraßen. B., unser Fahrer, ist Christ und einer der IDP (Internal Displaced People), die vor dem IS fliehen mussten. Ein Schicksal, das uns im Laufe der Tage immer wieder begegnen wird. Es ist schon 6:30 Uhr, als wir erschöpft in unsere Betten fallen.
Warum tut man sich eine solche Tour an? Ich denke an den Besuch von Horst-Klaus Hofmann, im vergangenen Jahr. Er hatte uns eingeschärft: „Zwei Dinge sollte ein Christ immer bei sich haben: die Bibel und die Tageszeitung. Die Tageszeitung zeigt uns, wofür wir beten sollen, und die Psalmen, wie wir beten können.“ In unserem Mittagsgebet beten wir regelmäßig für die Menschen in Nahen Osten. Persönlich folge ich intensiv den Nachrichten aus dieser Region. In meiner morgendlichen stillen Zeit beschäftigte mich die Situation der Christen in Kurdistan/Irak intensiv, und der Gedanke reifte: die nächste Reise geht in das Land, in dem Abraham geboren wurde, und in dem Christen wohnen, deren Tradition bis zur Apostelgeschichte reicht – in den Irak!
Bei den Vorbereitungen dienten mir vier Bs als Leitfaden: Beten für die verfolgten Christen. Wer vor Ort war, betet anders, intensiver und konkreter. Begegnung: Verfolgte Geschwister kommen uns im persönlichen Gespräch näher als durch die Medien. Beziehung lebt von Gegenseitigkeit: sie haben uns viel zu geben und lehren uns, was es heißt, als Christ in einer Minderheitenposition auszuharren. Bauen: Wir können Geschwistern im Osten beistehen, die Zukunft ihres Landes mitzugestalten. So bauen wir gemeinsam an der Zukunft der Kirche Jesu.
Christen in Waffen
Am Nachmittag fahren wir nach H., eine dreiviertel Stunde westlich von Dohuk. Von nun an begleitet uns der Schweizer Pfarrer A.G., der für die Hilfsorganisation CAPNI arbeitet und diese Reise für uns organisierte. Das Dorf H. wurde von Armeniern errichtet, die 1915 vor dem Massaker aus der Türkei geflohen waren. Saddam Hussein hatte es nahezu dem Erdboden gleichgemacht, nur die Schule blieb, in Ruinen, stehen. Vor zehn Jahren kehrten die ersten Armenier zurück und bauten es samt Kirche wieder auf. Inzwischen haben dort auch zahlreiche Familien aus Mossul Zuflucht gefunden.
Am Dorfeingang patrouillieren Männer mit Maschinengewehren. Bürgermeister M.V., stämmig und mit gepflegtem Schnurrbart, empfängt uns in seinem gastfreien Haus. Die Deko seines Wohnzimmers ist prägnant: Mehr als 20 geladene Schusswaffen und diverse Kampfmesser prangen sorgfältig aufgereiht und griffbereit an den Wänden. Seine Geschichte sprengt unsere Vorstellungskraft. Er wurde noch unter Saddam eingezogen und diente als Scharfschütze im Irakkrieg. Er hat gelernt, genau zu zielen und auch, wie man Menschen mit bloßen Händen tötet. Das komme ihm nun zugute, wenn er die Männer im Dorf sammelt, um marodierende IS-Truppen abzuwehren. Er ist bereit, zu töten und auch getötet zu werden, wenn es gilt, die Frauen und Kinder zu schützen. Und gleichzeitig ist er hingebungsvoller Christ, der täglich mit der Frage ringt: Was wird mich vor dem Richterstuhl Gottes erwarten? Wie gebe ich Rechenschaft über das Leben derer, die mir anvertraut sind, und derer, gegen die ich kämpfe? Auch wir wissen keine Antwort und überlegen im Stillen, was wir täten, wenn der IS sich um die Häuser unserer Familien versammelte, um ein Blutbad anzurichten, die Frauen zu vergewaltigen und die Heimat zu zerstören. Aber wir glauben ihm, dass er sich, wie wir alle, nach Frieden sehnt. Nein, dieser Mann passt nicht in meine Schubladen, und ich frage mich: Wie passt so viel grausige Erfahrung und so viel Widersprüchliches in ein einziges Menschenleben?
Im militärischen Sperrgebiet
Am nächsten Tag geht es nach Baschika, einer Stadt 25 km nordöstlich von Mossul. Unzählige Kriegsgräber über den hohen Erdschutzwällen säumen den Weg. Den Checkpoint können wir erst mit der Sondergenehmigung eines Generals passieren. Baschika wurde vor sechs Wochen von der kurdischen Peschmerga befreit. Überall zerstörte Gebäude, Schusslöcher in jeder Hauswand, ausgebrannte Wohnungen. Nicht auf den Bürgersteig laufen!, schärft man uns ein, dort liegen noch Sprengfallen vom IS. Die beiden Kirchen im Zentrum sind bereits bombenfrei. Der Gang durch die syrisch-orthodoxe Kirche drückt schwer auf unser Gemüt: der Boden ist übersät mit Patronenhülsen, der Altar zerschossen und geschändet, die Ikonen schwarz übertüncht und die Köpfe der Figuren auf den Steinreliefs ausgeschlagen. In der syrisch-katholischen Kirche nebenan hatte der IS noch schlimmer gewütet, aber der Priester hat mit Helfern den Boden von Dreck und Schutt schon befreit. Beim Rausgehen entdecken wir die Kreuze auf den Kuppeln. Man sagt uns, das Aufrichten der Kreuze wäre das erste, wenn der Ort vom IS befreit ist. Dann hängen sie die Glocken auf und läuten lange, bevor die erste Messe gelesen wird: Wir sind wieder da! Wir geben die Hoffnung nicht auf! Ob ich bereit wäre, in solche Ruinen, in solche Zerstörung und in ein so vergiftetes Umfeld zurückzukehren? Hätte ich Hoffnung und Motivation genug, neu anzufangen, die Kirche wieder aufzubauen?
Verfolgt als „Teufelsanbeter“
Auf der Straße kommen uns zwei unbekannte Männer entgegen. Es sind Jesiden. Die stehen als „Ungläubige“ und „Teufelsanbeter“ ganz oben auf der Abschussliste des IS. Während Christen noch gelegentlich mit einer Schutzgebühr Schlimmstes abwenden oder in andere Gegenden fliehen konnten, wurden in jesidischen Dörfern die Männer und Knaben ohne Umschweife ermordet, die Frauen und Mädchen verkauft und zur Prostitution gezwungen. Die beiden laden uns ein, ihren Friedhof zu besichtigen, der direkt an den der Muslime grenzt. Es ist noch nicht lange her, da kamen hier Christen, Muslime und Jesiden miteinander zurecht. Das Zerstörungswerk des IS hat auch ihr Miteinander zerrüttet und Angst, gegenseitiges Misstrauen und Hass zurückgelassen. Weil wir mehr über die Jesiden erfahren möchten, deren Diasporagemeinschaften auch in Deutschland wachsen, besichtigen wir in Lalisch die zentrale Kultstätte ihrer eigentümlichen Religion.
Hoffnung auf Versöhnung?
Am Mittwoch geht es in die Gebirgsregion nördlich von Dohuk. Unterwegs diskutieren wir, ob die friedliche Koexistenz der Völker und Religionen hier je gelingen kann. Im Dorf Kuret Gavana zeigt man uns einen Fensterbaubetrieb, in dem Muslime, Christen und Jesiden zusammenarbeiten. Versöhnung lässt sich nicht verordnen, aber etwas gemeinsam zu tun, kann neues Vertrauen wachsen lassen. Das ist die stärkste Botschaft, die ich aus dieser Begegnung mitnehme. Weiter oben im Gebirge, nahe der Grenze zur Türkei, beginnt es zu schneien. Man sagt uns, dass das türkische Militär vom Norden her das Land destabilisiert und seine eigenen Interessen durchsetzt, wie der Iran es vom Osten aus tut. Wir kommen zu einem gigantischen Flüchtlingscamp mit 900 Wohncontainern bei Dawudye. Hier suchen engagierte Mitarbeiter nach Methoden der Traumabewältigung – etwas, wofür die kurdische Sprache gar keine Vokabel hat. Vor allem die Kinder brauchen Hilfe. In sog. childfriendly spaces, freundlich eingerichteten Räumen, sind sie unter sich, spielen, lesen, verweilen. Hier erhalten sie auch Unterricht und können Sportangebote wahrnehmen, engagierte Begleiter stehen ihnen zur Seite.
Am späten Nachmittag haben wir Gelegenheit zur Begegnung mit Erzdiakon Emanuel Youkhana, der die Hilfsorganisation CAPNI vor 25 Jahren gegründet und aufgebaut hat. Es ist nicht leicht, ein Gespräch mit dem vielbeschäftigten Mann zu führen, wir werden immer wieder unterbrochen. Mein Interview stolpert dahin, er hätte gern mehr Zeit, um mir in Ruhe zu berichten. Mir klingt vor allem seine Erwiderung im Ohr, als ich über die geflüchteten Christen in unserem Land zu sprechen komme: „Je mehr von den Unsrigen zu euch kommen, desto schneller erfüllt sich der Plan des IS. Der Westen vollendet, was die hier begonnen haben: Das Christentum, das diese Gegend seit 2000 Jahren prägt, wird ausgelöscht.“
Vermintes Gelände in der Ninive-Ebene
Es ist Donnerstag, und mir kommt es vor, als wären wir schon seit Wochen hier – so angefüllt ist die Zeit. Aber heute soll es eine Steigerung geben. Mit Unterstützung von CAPNI fahren wir wieder in die Ninive-Ebene, diesmal nach Batnaya. Nur weil unser junger kurdischer Begleiter Offizier ist, dürfen wir in das Sperrgebiet. Er hat durch den IS sieben Familienangehörige verloren. Batnaya wurde komplett und systematisch zerstört – weit schlimmer als Baschika. Als wir durch den Ort fahren, hören wir eine Explosion. Erleichtert stellen wir fest, dass Minen kontrolliert gesprengt werden. In der Kirche finden sich Spuren unbeschreiblicher Gräuel. Hier wurden Christen, Jesiden und Kritiker des IS interniert, gefoltert und grausam getötet. Im hinteren Bereich erkennen wir ein Gerüst mit herunterhängenden Stromkabeln. An Wänden und Säulen ist auf Arabisch „Allah“ und „Mohammed“ zu lesen. Kinder wurden hier indoktriniert und auf das Töten abgerichtet: so rekrutiert der IS seinen Nachwuchs. Der Schrecken hängt gleichsam im Raum: auf dem Boden unter dem Dachstuhl liegen Schlafsäcke und Kochuntensilien von IS-Kämpfern, die sich hierher zurückgezogen hatten, weil Kirchen von der irakisch-amerikanischen Allianz grundsätzlich nicht zerbombt wurden. Unweit davon eine weitere, blutverkrustete Foltereinrichtung.
Schweigend, seufzend und betend bewegen wir uns durch die Kirche. Über uns schwärmen Kampfflugzeuge der US-Alliierten Richtung Mossul, in der Ferne hört man schwere Artillerie. Auf dem Weg zum Auto entdeckte ich ein arabisches Graffito, das man mir übersetzt: „Im Gebiet des Islam ist kein Platz für das Kreuz.“ Wieder muss ich an die Wirte von Erzdiakon Youkhana denken: „Wo sich der Islam breitmacht, ist irgendwann kein Raum mehr für Christen.“ Was kann man einer solchen Aussage entgegensetzen? Ich frage mich, was das für uns in Europa bedeutet. Welche Richtung nimmt die Koexistenz von Christen, Kirchenfernen und Muslimen? Welche Herausforderungen bergen die neuerlichen Flüchtlingsbewegungen? Wie sind wir darauf vorbereitet? Als Deutsche? Als Christen?
Wir fahren durch die Ninive-Ebene in den Norden nach Alqosh. Hier gelang es der christlichen Bürgerwehr, die Stadt gegen den IS zu verteidigen. Beim Essen in einem kleinen Lokal erörtern wir die Möglichkeiten, etwas für Christen im Irak zu tun. Unsere Begleiter meinen, dass humanitäre Hilfe dringend und notwendig sei, aber langfristig nicht ausreiche. Kurden und Jesiden brauchen Stabilität, um weiter auszuharren. Wozu sollen sie ihre Dörfer wieder aufbauen, ihre Existenz einrichten, wenn abzusehen ist, dass die nächste extremistische Gruppe über sie herfällt? Die Regierung hat kein Interesse daran, Kurden zu schützen, erst recht keine Christen. Es braucht die nachdrückliche Solidarität der Europäischen Union und der Kirchen im Westen.
Mönche und Propheten
Unsere Verabredung mit dem Bischof der syrisch-katholischen Kirche in Alqosh platzt, aber der Grund ist erfreulich: Ein Städtchen ist vom IS befreit, und er wird mit dem syrisch-orthodoxen Patriarchen eine Messe feiern. Was für ein Zeichen der Hoffnung inmitten der Zerstörung! Wir nutzen die Zeit für einen Trip zum Kloster Rabban Hormizd. Von hier wurden im 6. Jh. Brüder nach Indien, Tibet und ins Reich der Mitte entsandt. Einige der von ihnen gegründeten Gemeinden existieren noch. Beeindruckt vom missionarischen Eifer der Mönche fahren wir ins Tal zur letzten Ruhestätte des biblischen Propheten Nahum. Die in Ruinen liegenden Steine mit hebräischen Inschriften zeugen von der Pracht und Größe der einstigen kurdisch-jüdischen Synagoge. Erschütternd, dass nach dreitausend Jahren kontinuierlicher jüdischer Präsenz im einstigen Babylonien sich heute keine zehn Männer im Land mehr finden, die es für den Minjan braucht, den Gottesdienst in der Synagoge.
Unter dem Radar
Zurück in Erbil werden wir in einem Gebäude in der Stadtmitte untergebracht, gegenüber der Zitadelle, die UNESCO-Weltkulturerbe ist. Unser Haus ist neu: unten befindet sich ein gut besuchtes Einkaufszentrum, darüber drei Etagen mit Büroräumen, in denen jetzt Flüchtlinge einquartiert sind. Der wohlhabende Inhaber, ein Christ, hatte von einem Tag auf den anderen entschieden, die noch nicht eingerichteten Räumlichkeiten – kostenfrei – für Flüchtlinge aus der christlichen Stadt Karakosch zu öffnen. Ein junges Ehepaar leiht uns ihre winzige Wohnung und zieht zum Onkel nebenan. Drei Männer aus der Unterkunft laufen mit uns über den belebten Basar. Am Fuße der Zitadelle, deren Grundstein mehr als tausend Jahre vor Abrahams Geburt gelegt wurde, trinken wir in einem Straßenlokal türkischen Tee. Unsere Begleiter berichten von der Zerstörung ihrer Stadt, und von der Hoffnung, ihre Häuser im befreiten Karakosch wieder aufzubauen. Aber auch sie fragen sich, ob sich die Mühe lohnt: Wer gewährt uns Schutz vor dem nächsten Überfall?
Am nächsten Morgen sind wir auf Stippvisite beim einem christlichen Radiosender. Elf Stunden am Tag senden sie live die Botschaft des Evangeliums und erreichen über sieben Millionen Zuhörer, selbst in entfernten, vom IS besetzen Regionen. Täglich rufen Menschen aus dem belagerten Mossul an und danken für Ermutigung und Stärkung. Hier, im christlichen Stadtteil Ankawa ist das Team bekannt wie ein bunter Hund. Aus Sorge vor möglichen Anschlägen werden sie nächste Woche in ein anderes Quartier ziehen – lieber unter dem Radar bleiben!
Zurück in den Glaubensluxus
Am 28. Januar in aller Frühe startet unser Flugzeug nach Frankfurt. Schweigend sinnen wir den Eindrücken der letzten Tage nach: Bilder der Begegnung und Gastfreundschaft, der Zerstörung und der Hoffnung. In meinem Stillezeit-Buch halte ich einige Gedanken fest, unter anderem die Aussage des Erzdiakon Youkhana: „Wir möchten als Zeichen dienen, wie man dem Glauben trotz Verfolgung treu bleibt. Für uns hier ist Religion keine Luxusentscheidung.“ Ich kehre also zurück in den Luxus der Religionsfreiheit – für mich eine Selbstverständlichkeit. Da sollte es selbstverständlich sein, den Glaubensgeschwistern im Nahen Osten zu zeigen, dass wir sie nicht vergessen haben. Und dass wir von ihnen lernen möchten, treu und standhaft im Glauben zu bleiben.