Politiker aus christlicher Motivation

Für ein versöhntes Miteinander im Irak

Interview mit Ano Abdoka von David Müller

Unser Freund Ano Abdoka (links), Minister der Regionalregierung Kurdistan-Irak, mit Masrur Barzani (Mitte), Ministerpräsident der Region Kurdistan-Irak, beim Besuch von Papst Frankziskus (rechts) im Irak

Bei einer unserer ersten Irak-Reisen in 2018 habe ich Ano Abdoka kennengelernt. Sehr schnell haben wir Vertrauen zueinander gefasst. Heute sind wir sehr gute persönliche Freunde, die in regelmäßigem Kontakt stehen. Er ist Christ und seit 2019 Minister der Regionalregierung Kurdistan-Irak. Gerne stellte er sich bei meinem Besuch im Februar 2022 meinen Fragen.

Ano, wo bist du aufgewachsen und was hast du bisher beruflich gemacht?

Ich stamme aus einer chaldäisch-katholischen Familie, die sich als Nachkommen der Chaldäer und Babylonier betrachtet, also Nachkommen der assyrischen und babylonischen Zivilisation. 1984 wurde ich in Ankawa geboren, einem mehrheitlich von Christen bewohnten Vorort von Erbil.

Den Geschichtsbüchern nach gibt es fünf Familien aus Ankawa, die einst aus der Zitadelle von Erbil in diese Stadt zogen. Meine Familie ist eine davon. Diese Zitadelle ist einer der ältesten durchgängig bewohnten Orte der Welt und wurde vor rund 7.000 Jahren das erste Mal besiedelt.

Ich habe eine große Familie. Mehr als 300 Cousins und Cousinen sind ausgewandert und leben verstreut über die ganze Welt: in den USA, Kanada, Australien, Neuseeland, Deutschland, Schweden, Dänemark, Großbritannien und anderen europäischen Ländern. Die in Ankawa verbliebene Familie ist eine der großen Familien dort.

Dort habe ich auch die Schule besucht und danach mein Diplom in Medienwissenschaften in Erbil erworben. An der Universität von Kurdistan Hewlêr habe ich dann den Bachelor in Politikwissenschaft und internationale Beziehungen gemacht sowie den in internationalen Studien. Ich habe mich intensiv mit den Gründen für die Auswanderung von Christen aus dem Irak beschäftigt. Anschließend war ich einer der Kandidaten für das Doktorandenprogramm, bis ich mein Amt als Minister für Verkehr und Kommunikation im neunten Kabinett der Regionalregierung Kurdistan-Irak antrat.

Beruflich war ich in dieser Zeit für die Journalistenvereinigung „Kurdistan Journalists Syndicate“ tätig, zuletzt als Leiter der Aufsichtskommission. Außerdem habe ich elf Jahre lang als Reporter, Redakteur und Leiter der Abteilung für christliche Programme für Kurdistan TV gearbeitet.

Wie bist du zur Politik gekommen?

Mein ältester Onkel, ein berühmter Künstler, wurde in den 1960er-Jahren Mitglied der Peschmerga und schloss sich der Revolution gegen die damalige Diktatur im Irak an. Diese einst als bewaffnete Widerstandsbewegung zur Erlangung der kurdischen Unabhängigkeit gegründete Gruppe bildet heute die Streitkräfte der Autonomen Region Kurdistan im Irak.

Unsere Familie hat wegen meines Onkels sehr gelitten. Mein Vater wurde vom irakischen Geheimdienst gefangen genommen, inhaftiert und gefoltert. Unsere Familie hatte also eine persönliche Geschichte mit der hiesigen Politik. Als wir Kinder waren, erzählte uns mein Vater diese Geschichte, vor allem, dass sein Bruder ein Peschmerga-Kämpfer war. Das war es, was mich in die Politik drängte.

Und so begann ich mein öffentliches Leben in der Kirche als Mitglied der „Christian Youth Brotherhood“. Wir lernten in der Kirche, dass wir ein öffentliches Mandat benötigen, um unseren christlichen Brüdern und Schwestern hier zu dienen. Von der Kirche sind wir also in die Politik gegangen. Aber das Hauptziel ist immer noch das gleiche. Wir wollen unserem christlichen Volk in der Region Kurdistan und im Irak dienen.

In meiner Hochschulzeit war ich in der „Kurdistan Students Union“ aktiv. Danach war ich der erste gewählte Leiter des lokalen Komitees der Demokratischen Partei Kurdistans in Ankawa und machte mich für die Anliegen der Christen stark. Gemeinsam mit anderen habe ich den „Shlama Trend für christliche Angelegenheiten“ gegründet und mit fünf weiteren christlichen Parteien eine Fraktion im Parlament der Region Kurdistan gebildet. Die Nationale Einheitsunion ist die größte christlich-chaldäisch-assyrisch-syrische Parlamentsfraktion; sie umfasst drei von fünf Abgeordneten.

Welche Rolle spielt dein christlicher Glaube in deinem Leben und Beruf?

Die wichtigste! Als Christen sind wir aufgefordert, uns für die Verbreitung von Liebe, Frieden, Harmonie, Koexistenz und Toleranz einzusetzen. Das ist die Erziehung, die wir von unserer Kirche und von unserem Herrn Jesus Christus erhalten haben. So können wir als Christen jedes Mal etwas bewirken. Wir sind hier, um für unseren Glauben Zeugnis abzulegen. Und für unsere großen Vorfahren, die den Glauben von den Aposteln Petrus und Thomas bekommen haben. Unsere Kirche, die Kirche des Ostens, ist eine der ältesten Kirchen der Welt. Unsere Vorfahren predigten das Christentum in China und Indien und auch in Afrika. Wir hatten bereits im Jahr 92 n. Chr. einen Bischof in der Zitadelle von Erbil. Es ist unsere Verantwortung, für unseren Glauben Zeugnis abzulegen und die Lehren Jesu Christi auch in unserer Arbeit als Politiker zu verbreiten. Wir können immer Politiker sein und gleichzeitig die Ethik des Christentums in unserer täglichen Arbeit leben.

Was motiviert dich, auch unter schwierigen Bedingungen weiterzumachen?

Die Menschen im Irak und in der Region Kurdistan haben in der Zeit der Diktaturen sehr gelitten. Der Völkermord an den syrischen Christen 1915-17, der auf Aramäisch „Sayfo“ genannt wird, hat sich in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt. Zwischen 100.000 und 250.000 Christen verloren ihr Leben. Oder das Massaker von Semile, bei dem 1933 mehrere tausend Assyrer getötet wurden. Hunderttausende Menschen fielen der Anfal-Operation zum Opfer. Diese genozidalen Maßnahmen wurden von Saddam Hussein zwischen 1986 und 1989 gegen die kurdische Bevölkerung und andere Minderheiten im Nordirak eingesetzt. Dem Giftgas-Angriff der irakischen Armee auf Halabdscha (1988) fielen rund 3.200 Menschen zum Opfer.

Auch unsere Urgroßväter wurden getötet, weil sie Christen waren. Die Menschen in der Region Kurdistan wurden verfolgt, weil sie ihre Rechte haben wollten. Sie wollten nicht arabisiert werden.

Was mich also antreibt, in diesen schwierigen Zeiten zu arbeiten, ist, dass wir etwas aufbauen wollen. Ich persönlich möchte ein besseres Land, eine tolerantere Gesellschaft, in der meine drei Töchter sicher und mit der Aussicht auf eine hoffnungsvolle Zukunft aufwachsen können.

Worüber bist du glücklich?

Ich bin froh, dass es in der Region Kurdistan-Irak eine religiöse und ethnische Koexistenz gibt. Es ist hier zwar nicht das Paradies, aber wenn man den Nahen Osten betrachtet, haben wir hier etwas Einzigartiges. Dies ist für uns Christen eine zweite Chance, unsere Existenz in Mesopotamien zu stärken.

Nach dem Sturz des Regimes Saddam Husseins wurden 111 Kirchen angegriffen und tausende Christen getötet, darunter auch Bischöfe, Priester und Nonnen. Dies veranlasste viele zur Flucht aus ihrer Heimat. Andererseits kam eine große Zahl Menschen aus dem mittleren und südlichen Irak in die nördliche Region Kurdistan-Irak und fand hier eine neue Heimat, sodass heute rund 75.000 Christen in Ankawa leben.

Vor kurzem hat der kurdische Ministerpräsident Masrur Barzani dem Bezirk Ankawa das Recht eines autonomen Bezirks verliehen. Das bedeutet, dass es nun einen Bürgermeister, einen Gemeindevorsteher und einen Stadtrat geben kann, in dem alle Christen sind. Er ist damit ein halb-autonomer Bezirk für Christen.

Ich bin froh über das, was wir hier erreicht haben. Aber ich arbeite auch daran, ein besseres Leben für Christen und alle anderen Bürger in der Region Kurdistan-Irak zu schaffen.

Was ist dein Wunsch für die Region Kurdistan-Irak und den ganzen Irak?

Ich wünsche uns allen, dass wir miteinander auskommen. Und ich wünsche den Politikern in Bagdad, dass sie verstehen, dass die Mentalität der Diktatur, die Mentalität der autoritären Regime für dieses Land nicht mehr funktioniert. Wir haben in den letzten 50 Jahren viele Diktaturen erlebt.

Wir haben die verheerenden Kriege mit dem Iran, mit Kuwait, gegen die Kurden und das kurdische Volk und gegen die Christen miterlebt. Wir haben dabei nichts gewonnen. Wir müssen unser föderales System stärken. Wir müssen uns gegenseitig respektieren und unterschiedslos allein auf der Basis der Verfassung arbeiten. Außerdem müssen wir unabhängig sein. Wir dürfen den Nachbarländern keine Gelegenheit geben, uns auszubeuten, mit dem Argument „Wir haben die gleiche Religion“ oder „Wir haben den gleichen Glauben oder gehören der gleichen Religionsgemeinschaft an“.

Das irakische und auch das kurdische Volk haben eine stolze Geschichte. 7.000 Jahre Zivilisation seit den Sumerern, Akkadiern, Chaldäern, Assyrern und den Medern. Danach kam die islamische Zivilisation im Irak. Es ist eine Schande für uns, von anderen Mächten außerhalb unserer Grenzen kontrolliert zu werden. Ich selbst bin sehr stolz darauf, dass ich zu dieser schönen alten Zivilisationsgeschichte gehöre. Und ich werde nicht akzeptieren, von einem ausländischen Akteur unterdrückt oder ausgebeutet zu werden. Ich wäre froh, wenn die Politiker in Bagdad das verstehen würden. Auch den Politikern in der Region Kurdistan wünsche ich, dass wir alle auf friedliche Weise zusammenarbeiten, um unsere Rechte gemäß der Verfassung zu erhalten.

Weiter wünsche ich mir, dass mein christliches Volk nicht auswandert, sondern in den Ländern unserer Vorfahren bleibt. Und selbst wenn sie sich dafür entscheiden, denn wegzugehen ist eine zutiefst persönliche Entsche dung, sollen sie ihren Besitz nicht verkaufen. Sie sollen gute Beziehungen zu ihren Verwandten hier haben, damit sie vielleicht in einer anderen Phase ihres Lebens daran denken, in die Region Kurdistan und in den Irak zurückzukehren.

Wie können wir in Deutschland und Europa helfen, deinen Wunsch zu erfüllen?

Ihr könnt uns sehr helfen. David, du kommst häufig hierher. Vielleicht weißt du es nicht, möglicherweise hast du es aber gespürt. Wenn dich die Menschen sehen, wissen sie, dass sie Freunde in Deutschland haben, die ihnen zuhören. Sie fühlen Hoffnung. David mit seinen hellen Haaren kommt aus Deutschland zu uns, um zu helfen. Und wir haben Freunde, von denen wir zwar durch das Meer getrennt sind, aber sie unterstützen uns dabei, als Christen zu bleiben und unseren Glauben und unsere Kraft in unserer Existenz in der Region Kurdistan und im Irak zu bewahren.

Ihr könnt unsere Dörfer in der Ninive-Ebene beim Wiederaufbau unterstützen. Ihr könnt Ankawa, die größte christliche Gemeinde und Gesellschaft und die größte Stadt der Christen hier, unterstützen, z. B. bei der Beschaffung von Wohnraum für junge Leute, bei der Vergabe von Kleinkrediten für sie, damit sie kleine Unternehmen gründen können.

Und ihr könnt Studenten unterstützen, die an ihren Universitäten einen Master- oder Bachelor-Abschluss oder vielleicht sogar einen Doktortitel erwerben wollen. Deutschland ist ein sehr mächtiger Staat. Wenn ihr euch also entschließt, uns zu helfen, dann denke ich, dass das eine große Veränderung bewirken wird.

Vielen Dank für deine Offenheit und alles Gute!

Die Fragen stellte David Müller.

Ein weiteres, nach wie vor hochaktuelles Kurzinterview (3:32 Min.) mit Ano Abdoka:

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