Für eine Zukunft der Christen und die Wiederherstellung der religiösen Vielfalt im Irak

Interview mit David Müller über seine Arbeit als politischer Fürsprecher für Religionsfreiheit im Irak

Herr Müller, Sie waren im Oktober zum dritten Mal in diesem Jahr im Nordirak. Was ist das dominierende Thema der Christen und religiösen Minderheiten vor Ort?

Das ist ganz verschieden. In den zerstörten christlichen Städten dominiert natürlich das Thema Wiederaufbau und die Sorge um den täglichen Lebensunterhalt. Die Binnenvertriebenen in den Camps fragen sich, ob es für sie überhaupt noch eine Zukunft in Ihrer Heimat gibt, und die Christen in den Großstädten der Region Kurdistan-Irak leben in der Spannung zwischen einem moslemisch-dominierten Umfeld und den “paradiesischen” Werbebotschaften der westlichen Welt in den sozialen Netzwerken.

Was ist ihre größte Sorge?

Sie befürchten, erneut Opfer von innermuslimischen Auseinandersetzungen zu werden. Nach wie vor sind von unterschiedlichen Interessen gesteuerte Milizen aktiv. Der schiitische Iran übt einen großen Einfluss aus, Saudi-Arabien unterstützt die Sunniten und die Türkei bekämpft immer wieder die Kurden. Auch wenn der IS formell besiegt ist, ist doch dessen Denken in vielen Regionen noch weit verbreitet. Der Staat ist schwach und kann häufig das Recht nicht durchsetzen. Die Situation kann jederzeit erneut eskalieren. Konkret fürchten die Christen das erneute Erstarken von muslimischen Extremisten, die ganz schnell wieder zum Kampf aufrufen könnten. Dann würde sich alles wiederholen.

Wie wird Ihr Engagement vor Ort wahrgenommen?

Ich treffe viele unterschiedliche Menschen: Erzbischöfe, Parlamentsabgeordnete, Mitarbeiter aus Ministerien und Hilfswerken, Bürgermeister, lokale Priester, Unternehmer und viele ganz normale Menschen. Sie bringen mir große Offenheit, Wertschätzung und Dankbarkeit entgegen, dass ich in ihr Land komme und mir ein eigenes Bild vor Ort mache. Es gibt eine große Vielzahl an humanitärer Hilfe, aber nur wenige setzen sich für eine langfristig-politische Perspektive für die Christen und religiösen Minderheiten ein. Durch meine Anwesenheit werden viele Iraker ermutigt, die sich von der Welt vergessen fühlen, und die Verantwortungsträger sind dankbar für einen Partner aus Deutschland.

Leider haben wir in Deutschland ein eindimensionales und verzerrtes Bild von der Lage im Irak sowie den verfolgten Christen und religiösen Minderheiten dort. Zu wenige sind regelmäßig vor Ort unterwegs und informieren uns ausgewogen darüber. Das wird auch von meinen irakischen Gesprächspartner wahrgenommen. Sie sind deshalb sehr dankbar über meine Anwesenheit, freuen sich über meine vielen Fragen und mein ehrliches Interesse an einer langfristigen Lösung.

Neben Ihrem Engagement im Irak gibt es viele weitere Hilfsorganisationen, die den Wiederaufbau fördern. Was beobachten Sie?

Ja, es gibt eine große Welle an finanzieller Unterstützung, vom internationalen Hilfswerk bis zur lokalen deutschen Kirchengemeinde, die dankbar angenommen wird. Auf der strukturellen Ebene führt das aber auch zu problematischen Situationen.

Da das Leid und die Not sehr groß sind, gibt es unzählige Möglichkeiten zu helfen. Kulturelle Kompetenz und ein Verständnis der örtlichen Situation sind aber für effektive Unterstützung entscheidend. Gutgemeinte, aber nicht sachkundig vergebene Gelder können auch Gefahr laufen, dass sie ungesunde Finanzstrukturen stärken.

Da sich der Staat teilweise wenig um den Wiederaufbau kümmert, unterstützen viele ausländische Kirchen und kirchliche Hilfswerke ihre irakischen Glaubensgeschwister mit beachtlichen Summen. Das Misstrauen staatlichen Stellen gegenüber ist groß. Die lokalen Priester kennen jedoch ihre Gläubigen und sind außerordentlich engagiert. Diese Einseitigkeit führt an manchen Stellen aber auch zu neuen Schwierigkeiten, wenn die engagierten Priester, deren Hauptaufgabe die geistliche Unterweisung und Betreuung ihrer Gemeinde wäre, allmählich zu kommunalpolitischen Geschäftsführern werden. Mir wurde auch berichtet, dass die verschiedenen christlichen Kirchen sich oft schwer mit einem Engagement tun, das über ihre Glaubensgemeinschaft hinausgeht.

Was müsste sich ändern?

Generell würde ich jedem raten, einheimische größere Hilfswerke zu unterstützen. Diese kennen die Situation vor Ort und haben bei Preisverhandlungen die nötige kulturelle Kompetenz. Wir arbeiten eng mit zwei langjährigen, lokalen Werken zusammen, die ich sehr empfehlen kann: “Christian Aid Program Northern Iraq (CAPNI)” aus Dohuk unter der Leitung von Erzdiakon Emanuel Youkhana sowie “Al Raja & Al Salam for Civil Rights (HPJ)” aus Erbil.

Außerdem brauchen die politischen und zivilgesellschaftlichen Kräfte in der christlichen Ninive-Ebene Unterstützung bei der Etablierung einer stabilen Selbstverwaltung. Es braucht neben den kirchlichen Organisationen auch starke Bürgermeister, Parteien, Vereine und Interessensgemeinschaften, die bisher weitestgehend fehlen. Hier sieht man eine große Kompetenz bei uns in Deutschland und bittet nachdrücklich um Hilfe.

Was hilft den Christen, ihren Glauben frei leben zu können?

Trotz, oder gerade wegen der erlittenen Verfolgung und Diskriminierung ist es für die Christen wichtig, ihre Symbolik auch in der Öffentlichkeit sichtbar zu machen. Davon zeugt das demonstrative Aufrichten von Kreuzen, die Wiederherstellung von Kirchen und die öffentliche Durchführung von Gottesdiensten. Deshalb ist die Unterstützung dafür richtig und auch stark vorhanden.

Allerdings negiert die große moslemische Mehrheit das jahrtausendalte biblische Erbe des Landes aus der Zeit vor der Islamisierung im 7. Jahrhundert nach Christus. In der Gegend, die damals Mesopotamien hieß, entstanden ab dem vierten Jahrtausend vor Christus einige der frühesten Hochkulturen der Menschheit. Hier wurde Abraham geboren und viele Propheten haben hier gewirkt, wie Daniel in babylonischer Zeit, Jona in der Stadt Ninive und Nahum in Alqosh. Dies alles wird im offiziellen Bildungsplan jedoch verschwiegen. Ein irakischer Schüler bekommt während seiner Schullaufbahn kein einziges Wort über Christen, Juden, Jesiden oder Mandäer zu hören. Auch wir Europäer nehmen den Irak meist als moslemisches Land wahr und haben diese Wurzeln vergessen. Wir müssen deshalb im Irak und bei uns dafür sorgen, dass diese historischen Tatsachen wieder wahrnehmbar vermittelt werden.

Außerdem gibt es noch viele Menschenrechtsverletzungen, gegen die wir nachdrücklicher das Wort erheben müssen. Hier ein paar Beispiele:

  • Islamisierung von Minderjährigen: Ist ein Elternteil Moslem oder konvertiert zum moslemischen Glauben, werden die minderjährigen Kinder automatisch Moslems. Eine freie Wahl ab der Volljährigkeit, die auch kein Widerspruch zur Scharia wäre, wird vom Staat abgelehnt.
  • In der Verfassung werden die verschiedenen Minderheiten nicht anerkannt.
  • Eine Strafverfolgung von ehemaligen IS-Mitgliedern findet nur schleppend statt.

Was können wir als Christen hier in Deutschland tun?

Für die Christen im Irak sind der Glaube und das Gebet grundlegend und existenziell. Wenn ich diese Frage stelle, bitten nahezu alle Gesprächspartner um Gebet. Das Wissen um unser Gebet und das Vertrauen in seine Kraft stärkt die Gläubigen sehr.

Außerdem sollten wir weiterhin humanitär-diakonische und politisch-langfristige Hilfe leisten. Für jeden Euro in einem Bereich sollten wir einen Euro auch in den anderen Bereich investieren. Die ojcos-stiftung ist auf beiden Ebenen tätig.

Ich rate jedem, sich über die aktuelle Situation zu informieren und bei den örtlichen Bundestagsabgeordneten nachzufragen, was politisch unternommen wird. Auf unserer Internetseite www.ojcos-stiftung.de/irak gibt es einige aktuelle Veröffentlichungen dazu sowie einen kostenlosen E-Mail-Newsletter. Außerdem berichte ich regelmäßig über Facebook, Instagram und Twitter über meine Arbeit. Ich freue mich über jede Kontaktaufnahme.

Seit fast einem Jahr arbeiten Sie nun für die ojcos-stiftung. Wem begegnen Sie in Deutschland und welches Engagement nehmen Sie wahr?

Ich bin in regelmäßigem Kontakt mit Parlamentsabgeordneten und deren Mitarbeitern und bringe meine Erkenntnisse ein. Außerdem tausche ich mich mit den kirchlichen Akteuren aus, die im Irak oder beim Thema Religionsfreiheit tätig sind.

Kirchen und christliche Organisationen leisten viel humanitäre Unterstützung, doch beim Engagement für eine politisch-langfristige Perspektive sind sie selten dabei.

Das politische Engagement der deutschen Regierung hat aktuell seine Schwerpunkte im Bereich Stabilisierung des Landes und Fähigkeitsaufbau, Minderung von Fluchtursachen und Verbesserung von Bleibeperspektiven vor Ort.

Was ermutigt Sie bei aller Not, die dort dominiert?

Trotz der Migrationsbewegung gibt es viele Menschen, die sich für eine sichere und friedliche Lebensperspektive der Christen und religiösen Minderheiten im Irak engagieren. Sie unterstützen meine Arbeit, öffnen mir Türen und bestätigen mir regelmäßig, wie wichtig unser Dienst dort ist. Diese Zusammenarbeit ermutigt mich sehr.

Vielen Dank für das Gespräch.

Die Fragen stellte Konstantin Mascher, stellvertretender Vorsitzender der ojcos-stiftung.