Erfolgreich defragmentiert
Wie meine Vorurteile in Kerbela (Irak) zerbröselten
Silas Wolfsberger im Gespräch mit Frank Heinrich
In Kerbela findet jährlich das weltweit größte Zusammentreffen von Menschen an einem Ort statt. Anlass ist das schiitische Gedenkfest al-Arba’in. In diesem August pilgerten ca. 22 Millionen Menschen wochenlang nach Kerbela und gedachten dort des Märtyrertods Imam Husseins (im Jahr 680 n. Chr.), den sie für den rechtmäßigen Erben Mohammeds halten. Als Delegation der ojcos-stiftung waren David Müller, Konstantin Mascher, Michael Wolf, Frank Heinrich und ich zu einer Konferenz des Kerbela Center for Studies and Research eingeladen. Ziel der Konferenz war, soziologische, politische und humanitäre Schlüsse aus diesem Ereignis zu ziehen. Die Teilnehmenden kamen aus aller Welt und nahmen teilweise (wie wir) an der Pilgerreise teil. Mit Frank Heinrich habe ich unsere Erfahrungen ausgewertet.
Dieses hohe Fest hat für Schiiten einen enormen Stellenwert. Frank, wann ist dir das klar geworden?
Frank Heinrich: Ich finde es geradezu peinlich, wie unbekannt dieses Ereignis bei uns angesichts seines Ranges und seiner Größe ist. Die Enge im Schrein von Kerbela hat mir die Gewichtigkeit dieser Veranstaltung auch körperlich nahegebracht. Ich wünschte, dass unsere Medien dieses riesige Happening nicht nur kritisch, sondern in der Tiefe seiner Bedeutsamkeit reflektieren würden.
Hat dieses Erlebnis dir den Nahen Osten selbst nähergebracht? Gab es einzelne Eindrücke, die diese Reise für dich illustrieren?
Bei mir findet auch 40 Tage danach noch eine Defragmentierung statt, denn ganz viele meiner Vorurteile sind zerbröselt. Die Menschen dort sind mir nähergekommen. Manchmal verändert sich etwas im Denken, wenn wir einen Menschen aufgrund seines Erscheinungsbildes intuitiv als fremd wahrnehmen. Ich hatte damit gerechnet, dass sich auch bei unseren Gastgebern Vorurteile einschalten würden, habe dann aber nichts davon bemerkt. Natürlich wusste ich, dass Gastfreundschaft im Orient ein ganz zentraler Wert ist. Das wurde aber in der Begegnung neu in die Praxis übersetzt.
Überhaupt hatten wir nie den Eindruck, Teil einer Show zu sein. Wir haben zum Beispiel eine Universität für Frauen gezeigt bekommen, in der man vom Boden hätte essen können. Man baut so was ja nicht, um ein paar studierten Europäern zu beweisen, dass man der Welt gegenüber aufgeschlossen ist.
Was mich sehr beeindruckt hat, war die Unterscheidung von inhaltlicher Differenz und Beziehungspflege. Exemplarisch dafür war die Beziehung zwischen zwei Teilnehmern, einer Mutter und ihrer erwachsenen Tochter. Inhaltlich hatten sie ein sehr angespanntes Verhältnis. Aber sobald es um die Beziehung ging, stand außer Frage, dass sie sich lieben und schätzen.
Was mir negativ in Erinnerung bleiben wird, ist, dass ausgerechnet das Thema Israel von einem libanesischen Christen angesprochen werden musste, der sich in dem Zusammenhang klar als „Antizionist“ äußerte. In dieser Frage ist die Front noch verhärteter, als es meinem Vorurteil entsprach.
Wir waren nicht die einzigen Christen und sind doch sehr herausgestochen. Wie hat das die Begegnung mit dem Land und seinen Menschen beeinflusst, und was nimmst du aus diesen Begegnungen mit?
Ich war überrascht, wie sicher ich mich gefühlt habe. Zumindest in dieser besonderen Zeit des Jahres scheint der konfessionelle Unterschied keine Rolle zu spielen. Immer wieder ist uns der Satz begegnet: „Wenn wir nicht Brüder im Glauben sind, sind wir Brüder in Humanität.“ Selbst hohe Geistliche, die auf der Konferenz dabei waren, haben ganz öffentlich Interesse gezeigt.
So konfliktfrei ist es dort natürlich auch nicht immer, auch zwischen Schiiten und Sunniten nicht. Das wurde auf der Konferenz reflektiert. Es wurde darüber gesprochen, wie man den Geist von Arba’in ins ganze Jahr übertragen kann. Da kann ich als Christ viel lernen. Die Diskussion, wie wir Weihnachten oder Ostern ins restliche Jahr übertragen können, würde ich bei uns auch gerne führen. Auch als Christen können wir einfach auf der Ebene der Humanität mit unseren Nächsten umgehen und uns über alles, was darüber hinausgeht, freuen.
Als Sozialwissenschaftler interessiert mich natürlich das wissenschaftliche Niveau einer solchen Konferenz.
Einen Europäer hat die Organisation herausgefordert. Vieles war nicht ordentlich auf Englisch übersetzt, man saß im falschen Bus und alle anderen waren weg oder das Gepäck hat gefehlt. Erstaunt war ich aber, zu welchen Themen man, vermittelt über Arba’in, gekommen ist. Es ging viel um Verständigung, aber zum Beispiel auch um Gesundheitsfragen und Infrastrukturprojekte. Natürlich gab es auch Redner, die nur ein bisschen warme Luft im Raum verteilt haben. Das gibt es bei uns aber auch. Einer Konferenz war es würdig und auch mit mancher deutschen vergleichbar.
Mit der Organisation der Konferenz gibst du mir ein Stichwort: Auf welche Rhythmen muss sich ein strukturverliebter Deutscher einstellen, wenn er den Irak besucht?
Da gibt es natürlich viele Unterschiede. Grundlegend zunächst beim Essen: Das gibt es zu anderen Tageszeiten und in anderen Mengen. Das Leitungswasser sollten Europäer nicht trinken. Dass man sich am Mittag eher zurückzieht, hat mir das Prinzip Siesta nochmals veranschaulicht. Dafür fangen Veranstaltungen gerne mal um 23 Uhr abends an. Auch an die Temperaturschwankungen zwischen 47 Grad draußen und 25 Grad in Innenräumen muss man sich gewöhnen.
Was ich auch lernen musste, war, dass es eigentlich unmöglich ist, die unterschiedlichen Mentalitäten im Zeitmanagement zu synchronisieren. Wegen des dort gültigen Mondkalenders weiß man oft erst am Anfang des Monats, welcher Wochentag der letzte Tag des Monats sein wird. Die Planung war entsprechend chaotisch.
Ein schwieriges Thema im Zusammenhang mit der Region ist ja der Umgang mit Frauen. Wie hast du das Verhältnis zwischen den Geschlechtern erlebt?
Der Frauenanteil war überraschend hoch, und ich habe die Teilnehmerinnen als sehr offensiv erlebt. In den Diskussionen haben einige Frauen teilweise sehr scharfe Widerworte auch an Männer gerichtet. Anfangs dachte ich, vorurteilsbehaftet‚ die werden jetzt sicher in Ketten abgeführt. Aber authentische Kritik, gerade von Frauen, bleibt im wissenschaftlichen Diskurs offenbar nicht nur ungestraft, sondern ist sogar erwünscht.
Kaum aufgefallen sind mir Frauen „im Dienst“. Auf der Straße wurde für die Pilger gekocht, aber nur von Männern. Auch im Hotel waren Frauen entweder nicht beschäftigt oder nicht sichtbar.
Du hast schon von einem „antizionistischen“ Statement erzählt. Wie wurde mit dem Thema Israel gerade unter den Vorzeichen der so viel propagierten Humanität umgegangen?
Da zeigte sich eine große Gleichzeitigkeit von Widersprüchen. Auf der einen Seite spricht man tagelang über Friedfertigkeit, lässt dann aber Israel gegenüber nichts davon erkennen. Für uns ist das nur schwer nachvollziehbar, weil klar ist, dass Friedfertigkeit immer auch den Hauptfeind einschließen muss. Und gleichzeitig gibt es diese Widersprüche nicht nur im Irak. Man schaue nur mal auf unsere Straßen am Jahrestag des Angriffs der Hamas. Bei anderen Themen habe ich die Menschen dort auch sehr unvoreingenommen erlebt. So ganz werde ich die vielen Begegnungen und Eindrücke nicht sortieren können. Es gibt offensichtlich kein Schwarz-Weiß. Auf die Widersprüche muss ich mich einlassen, und gleichzeitig möchte ich mich auf die positiven Eindrücke konzentrieren.
Frank Heinrich war Offizier bei der Heilsarmee und Mitglied des deutschen Bundestages (2009-2021). Seit 2023 gehört er zum Vorstand der Evangelischen Allianz Deutschland.
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Diese kurzen Videos geben Einblick in seine Erlebnisse von al-Arba’in und lassen dich an den bewegenden Momenten und faszinierenden Begegnungen teilhaben.
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