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Interview mit Erzdiakon Emanuel Youkhana, Gründer und Exekutivdirektor des irakischen Hilfswerks CAPNI

Seit einigen Monaten demonstrieren in Bagdad junge Menschen. Welche Veränderungen haben sie ausgelöst?

Die Demonstranten haben Veränderungsprozesse in Gang gesetzt. Aber um diesen Staat mit seinen mächtigen Parteien, die alle Themen beherrschen, in der Tiefe zu ändern, braucht es Zeit. Es gibt zwar eine neue Generation von Politikern, aber die jetzige Generation wird nicht so leicht aufgeben. Diese Bewegung von der Straße hat viele Botschaften gesendet: Über den Einfluss eines fremden Landes, über die Korruption, über den Einfluss der islamischen Parteien. Besonders wichtig daran ist, dass eine schiitische Generation gegen schiitische Parteien auftritt. Und man kann sie nicht einfach als Verschwörung ein paar Einzelner abtun, wie das versucht wurde. Sie gehören zu keiner Gruppe, sondern kommen alle aus der Generation nach dem Jahrgang von 2003.

Sie haben gut begonnen, aber ihre Demonstrationen – so wie auch sonst in der Welt zu Beginn solcher Bewegungen – sind über das ganze Land verteilt. Von Bagdad bis Basra arbeiten einzelne Gruppen ohne eine gemeinsame Agenda. Und es ist auch nicht klar, wer in ihren Namen spricht.

Es braucht ja immer Zeit, um etwas zu ändern. Wie werden sie das schaffen? Was kann für sie hilfreich sein, damit sie sich besser organisieren können? Nicht, dass auf einen arabischen Frühling ein arabischer Winter folgt…

Ihre Agenda ist viel zu umfangreich. Sie sollten sich auf ein paar Themen konzentrieren. Am Anfang verlangten sie eine Revision der Verfassung, aber das ist leicht gesagt. Manche verlangen, dass es keine Parteien mehr geben solle, aber das würde nicht funktionieren. Sie sollten klare Forderungen postulieren: Erstens, zweitens, drittens usw.

Eine zentrale Forderung sind Neuwahlen. Aber die großen Fraktionen zögern wohlweislich, denn ihnen ist klar, dass bei zeitnahen Wahlen jede neue Partei, die säkular oder rechtsstaatlich ausgerichtet ist, die meisten Stimmen erhalten würde.

Weiterhin fordern sie, dass die Leute vor Gericht kommen, die für die Schießereien bei den Demonstrationen verantwortlich waren. Mehr als 600 Menschen wurden getötet. Niemand versucht das zu klären.

Sie wollen Antworten auf ihre Fragen zur Korruption oder den Wahlen. Aber nur große Parolen zu skandieren, die nicht erreicht werden können, ist nicht zielführend. Sie brauchen realistische Ziele und müssen Vertreter festlegen, die in ihrem Namen sprechen.

Ich bezweifle, dass die Regierung den guten Willen hat auf diese Forderungen einzugehen, geschweige denn die Fähigkeit dazu. Aber selbst wenn dem so wäre, mit wem sollte sie sprechen? Die Demonstranten müssen ihre Repräsentanten klar benennen.

Nach der Ermordung des iranischen Kommandeurs Qasem Suleimani zu Beginn des Jahres verabschiedete das irakische Parlament eine Resolution an die irakische Regierung, für ein Ende der militärischen Präsenz aller ausländischen Truppen im Land zu sorgen. Wie ist die aktuelle Situation? In welche Richtung wird es gehen?

Das war eine von Emotionen diktierte Reaktion. Sunniten und Kurden haben an dieser Sitzung nicht teilgenommen und sie haben auch nicht mit abgestimmt. Und selbst der Parlamentspräsident, Mohammed al-Halbousi, war dagegen. Jetzt haben wir eine schiitische, aber keine irakische Resolution.

Inzwischen sind die Emotionen unter den Schiiten etwas abgekühlt und sie sind in dieser Hinsicht realistischer. Ein Truppenabzug wird nicht funktionieren. Militärische Details könnten vielleicht neu verhandelt werden, aber wir brauchen die ausländischen Truppen!

Deutschland investiert viel Geld in den Irak. Wir sind nach den USA der zweitgrößte Geldgeber. Wo sollten wir uns verbessern? Wo haben wir blinde Flecken? Worauf sollten wir uns konzentrieren?

Irgendwann werden sich alle internationalen Nichtregierungsorganisationen (NGO) aus dem Irak zurückziehen, weil hier hoffentlich alles geregelt sein wird. Vielleicht werden sie sich dann auf Syrien oder den Jemen konzentrieren. Dann wird sich die lokale Gemeinschaft mit ihren NGOs der Bedürfnisse der Menschen hier und ihres täglichen Lebens annehmen. Parallel zur Unterstützung von Projekten sollte also ein Schwerpunkt auf die Förderung und Stärkung der NGOs gelegt werden. Dort sollte investiert werden. Wir dürfen nicht vergessen, dass „Zivilgesellschaft“ und „NGO“ neue Begriffe für den Irak, für unser Land, sind. Es gibt bisher keine Kontrolle des Staates. Lasst uns also die lokalen NGOs ausbauen, damit sie nach und nach die Führung übernehmen. Wir sollten deren Kapazitäten in Bezug auf Struktur, Buchhaltung und Transparenz, gegenseitige Kontrollmechanismen und Rechenschaftspflicht stärken. Das ist sehr wichtig, auch für die Projekte, die sie durchführen.

Nehmt euch auch der Rückkehrer an. In stabilen Gemeinschaften, wie z.B. der Region Kurdistan-Irak, ist es nicht deutsche Aufgabe, die Rolle der kurdischen Regionalregierung zu übernehmen, das ist deren Verantwortung. Es sollte Pläne geben, um die Korruption zu stoppen und die Strukturen gut zu planen. Deutschland sollte nicht die Regierung ersetzen, sondern sich auf die Menschen konzentrieren, die zurückkehren. Sie verdienen es. Aber das macht Deutschland auch recht gut. Sie haben in der Ninive-Ebene oder auch in Mossul viel getan.

Kommen Christen aus dem Ausland in die Ninive-Ebene zurück? Gibt es hier eine Bewegung?

Einige sind schon zurückgekehrt. Aber der Grund dafür ist oft nur, dass ihnen das gesuchte Asyl nicht gewährt wurde. Sie leben in Flüchtlingsunterkünften und vergleichen, was sie vorher hatten und was sie jetzt haben. Der Grund für ihre Heimkehr ist nicht die Anziehungskraft des Irak, sondern die fehlende Perspektive in Deutschland. Das gilt für Christen, für die es meist einfacher ist, sich im Ausland zu integrieren. Für Jesiden ist es vielleicht einfacher zurückzukehren, weil sie ihre Religion nur hier praktizieren können. Sonst haben sie das Gefühl, ihre religiöse Identität zu verlieren.

Uns wurde von der Eröffnung einer katholischen Universität in Erbil berichtet. Welche Wirkung hat diese Universität? Verursacht sie wirklich die entscheidende Veränderung?

Wir werden den Anteil an Christen unter der Bevölkerung nicht wiederherstellen können den wir einmal hatten. Wir sind stark dezimiert. Inzwischen sind wir nur noch 0,8 Prozent der Bevölkerung, wir waren mal 3 Prozent. Aber woran wir arbeiten können, ist die Wiederherstellung und Aktivierung der Rolle, die Christen und christliche Institutionen in der Gesellschaft haben. Damit meine ich christlich betriebene Institutionen, die öffentliche Dienste, zum Beispiel Krankenhäuser oder Schulen, die allen Menschen dienen, tragen. Aber sie sollten offen für alle sein. So verstanden ist die katholische Universität also hilfreich.

Aber gibt es nicht andere wichtige Probleme, die vorrangig gelöst werden müssen? Ich sähe es lieber, wenn wir uns mehr auf den Gesundheitssektor konzentrieren, denn die Versorgungslücke im Land ist enorm. Es gibt z.B. in der ganzen Ninive-Ebene keinen Radiologen. Weder eine Magnetresonanztomografie (MRT) noch eine Computertomografie (CT) ist dort möglich.

Wichtiger als eine Universität wären meiner Meinung nach Grundschulen. Da liegen die Wurzeln der Bildung. Eine Universität ist nicht gerade ein Luxus, aber auch kein Muss, eine Grund- oder Sekundarschule aber wohl. Ich weiß nicht, wie mit einem Budget von einer Million Dollar in Europa umgegangen werden würde, aber vielleicht wäre es besser, so viel Geld in vier oder fünf Grundschulen an vier oder fünf Standorten zu investieren.

In Deutschland hört man viel von christlichen Hilfswerken, die in Häuser und Kirchen investieren. Hier im Irak sagt man mir, dass langfristige Hilfe viel wichtiger ist. Warum kommt diese Information in Deutschland so wenig an?

Die großen Geldgeber kommunizieren vorwiegend mit den Kirchen, die aber in dieser Frage nicht ihre Hauptkompetenz haben. Da fokussiert man sich z.B. auf den Wohnungsbau, aber bedenkt nicht, dass Kinder Schulen brauchen, und dann die Kranken ein Krankenhaus und am Ende des Monats alle ein Einkommen. Dafür muss man eine strategische Vision haben.

Zurück zu den Bischöfen oder Priestern, die in Deutschland sprechen oder publizieren. Ich respektiere natürlich alle Bischöfe, aber hier geht es nicht um Angelegenheiten der Kirche. Bevor der IS kam hatten wir z.B. in Karakosch 50.000 Einwohner. Darunter viele sehr gut ausgebildete Ingenieure, Geschäftsleute, Rechtsanwälte usw. Diese Leute sollte man ihre Ideen einbringen lassen.

Wenn wir der Kirche diese Aufgabe übertragen, untergraben wir ihre ureigentliche Rolle. Es ist keine kirchliche Angelegenheit, Unternehmer unter Vertrag zu nehmen oder Verträge mit Elektrikern oder Bauleuten abzuschließen.

Deshalb ist es problematisch, wenn es große christliche Hilfswerke gibt, die darauf bestehen, nur mit der Kirche zusammenzuarbeiten. Dort gibt es nur eine begrenzte Transparenz und Kontrollmechanismen. Ich will damit niemand beschuldigen, aber die Arbeitsweise der Kirche ist nicht vergleichbar mit der einer professionellen NGO.

Wir als christlich geprägte NGO haben auch folgende Schwierigkeit immer wieder erlebt: Wir haben einem Kirchenoberhaupt eine Führungsaufgabe übertragen, weil wir respektieren, dass er „der Ältere“ ist. Seine Haltung dazu war jedoch: Ich bin „der Einzige“. Es ist aber ein enormer Unterschied, ob jemand eine Verantwortung hat, weil er „der Ältere“ oder weil er „der Einzige ist“.

Mir scheint, dass auch in Deutschland primär Menschen aus dem Irak sprechen, die die Sicht der Kirche vertreten. Haben Sie Fürsprecher für diese Ideen, die Ihnen dafür auch eine Plattform geben?

Leider nein. Nicht einmal innerhalb des Irak haben wir ein Netzwerk, das verschiedene Menschen zusammenzubringt, die an der gleichen Sache arbeiten, geschweige denn eine Plattform in der Kirche für wirtschaftliche Fragen. Wie können wir das dann von anderen erwarten?

Es gibt viele lokale Partner, die von den gleichen Geldgebern unterstützt werden. Also hatten wir ein regelmäßiges Treffen vorgeschlagen, um auszutauschen, wer was wo macht. Aber das ließ sich nicht verwirklichen. Jeder handelt auf eigene Faust.

Sie sagen, wir sollten die lokalen Partner stärken. Diese leben in einer Welt, die wir nicht verstehen, in einer Kultur, die wir nicht verstehen, und sprechen eine Sprache, die wir nicht verstehen. Und das Problem ist, die Richtigen zu finden. Gibt es eine einfache Checkliste, an der man sich orientieren kann?

Ich spreche aus Erfahrung, wenn ich sage, dass manchmal große NGOs hier mit einer Haltung der Stärke und Überlegenheit auftreten. Sie kommen und versuchen, ihre Vorstellungen durchzusetzen, sie streben nicht nach echter Partnerschaft. Dazu gehört mehr als nur eine Unterschrift.

Ich hatte schon mit deutschen NGOs zu tun, denen die Professionalität fehlt, die wir im Irak haben. Es gibt also Fehler oder Schwächen, manchmal an den Hauptsitzen, aber ich denke, dass dies meist in den Landesbüros passiert. Manchmal fehlt auch einfach die richtige Person dort.

Die NGOs müssen in einem partnerschaftlichem Geist kommen, damit wir voneinander lernen können. Wir brauchen sie nicht als Lehrer, wenn sie nicht gleichzeitig bereit sind, auch als Schüler zu kommen. Einige kommen mit der Einstellung: „Ich habe das Geld, ich habe die Macht.“ Das kann nicht funktionieren. Wir brauchen einen transparenten, professionellen Austausch. Das ist eine Frage des gegenseitigen Respekts.

Vielen Dank für diesen ehrlichen und fundierten Einblick!

Die Fragen stellte David Müller, Politischer Fürsprecher für Religionsfreiheit im Irak der ojcos-stiftung.
Das Interview entstand im März 2020 bei einer seiner Reisen in die Region.

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