Gibt es eine Zukunft für die verfolgten Christen im Irak?

Eindrücke und Gedanken von David Müller, unserem politischen Fürsprecher für Religionsfreiheit im Irak


Im letzten Jahr wurde die ojcos-stiftung nachdrücklich mit der Forderung verfolgter religiöser Minderheiten aus dem Irak konfrontiert, dass sie neben der humanitären Hilfe besonders auf die Solidarität der Kirchen und die politische Unterstützung der deutschen Regierung und der Europäischen Union angewiesen seien. Nur so wäre zukünftig ein versöhntes Leben in Frieden und Freiheit vor Ort möglich. Um hier zu helfen, wurde ich ab Januar 2018 als Politikreferent für Religionsfreiheit hauptamtlich angestellt.

Nach intensiver Einarbeitung in die historische und aktuelle Situation bin ich vom 6. – 14. März 2018 in den Nordirak gereist, um mir ein eigenes Bild zu machen.

Der erste Eindruck

Da der Flughafen in Erbil für internationale Flüge gesperrt war, flogen wir über Istanbul nach Sirnak in der Südosttürkei. Dort wurden wir mit dem Auto abgeholt, um in den Nordirak gefahren zu werden. Der Grenzübertritt wurde dann zur ersten Begegnung mit der „nahöstlichen Realität“: An der türkischen Grenze benötigten wir sechs Stunden für die Ausreise, da die ca. 50 Fahrzeuge stundenlang nicht abgefertigt wurden. Die Einreise in den Irak (Kurdistan) erforderte dann nochmal eine weitere Stunde Wartezeit.

Bei der Fahrt durchs Land fiel mir dann die erste (von vielen noch folgenden) Gegensätzlichkeiten auf: Statt ausgebrannter Fahrzeugwracks, Häuserruinen und verbrannter Erde sah ich ländliche Gegenden und wohlhabende Stadtteile in einem Standard, der auch in anderen Ländern am Mittelmeer üblich ist. Es gibt ganze Landstriche in der Autonomen Region Kurdistan, die keinerlei Kriegshandlungen erlebt haben. Und deren mobiles Internet ist unserem weit voraus.

Die zerstörten Städte der Christen und Jesiden

Unser Hauptkontakt im Nordirak war Erzdiakon Emanuel Youkhana, der Leiter des kirchlich-humanitären Hilfswerks CAPNI in Dohuk. Dieses ist seit vielen Jahren in der Region aktiv und genießt eine große Wertschätzung in der Bevölkerung. Er ermöglichte uns einen kompakten Einblick in die Situation der verfolgten Christen und religiösen Minderheiten und besuchte mit uns auch einige der zerstörten Städte in der Ninive-Ebene, die eine jahrtausendalte Tradition haben.

Bereits auf den ersten Seiten wird in der Bibel über die Gründung der Stadt Ninive durch Nimrod berichtet. Ungefähr 1.300 Jahre später führten die Aktivitäten des Propheten Jona dort zu einer Erneuerung des Glaubens. In Alqosh lebte außerdem der alttestamentliche Prophet Nahum, dessen Grab noch heute besucht werden kann. Heute sind die Mehrheit der Bewohner nach wie vor Christen, neben Jesiden, Schabak und Turkmenen.

Bereits an der innerirakischen kurdischen Grenze wurde sichtbar, dass wir in ein ehemaliges Kriegsgebiet kamen. Die Militärpräsenz stieg deutlich an und die Checkpoints nahmen zu. Über viele Kilometer war die Frontlinie präsent. Ein endloser Erdwall zog sich parallel zum mehrere Meter tiefen Graben durch das Land, ca. jeden Kilometer ergänzt um einen verlassenen Gefechtsstand. Es war nicht schwer, sich den Verteidigungskampf der Kurden gegen den IS vorzustellen.

In den meisten Dörfern lag der Sieg über den IS bereits über ein Jahr zurück. Die geflüchteten Bewohner konnten nach und nach zurückkehren und Wiederaufbauarbeiten in Angriff genommen werden. Die Auswirkungen des islamistischen Terrors an den Gebäuden und in den Menschen waren aber noch deutlich sichtbar.

Batnaya – Für die ca. 5.000 Einwohner bestand bisher keine Möglichkeit der Rückkehr in ihre völlig zerstörte Stadt.

Ba‘ashiqa und Bahzany – Hier trafen wir uns mit dem Bürgermeister, Priestern und Kleinunternehmern. Sie berichteten uns von großem Misstrauen untereinander. Das frühere Miteinander der verschiedenen Minderheiten sei nicht mehr vorhanden. Viele Familien könnten aufgrund der Zerstörung nicht zurückkehren. Außerdem herrsche große Angst vor der moslemischen Staatsgewalt. Es spiele für sie dabei keine Rolle, ob es sich um sunnitische oder schiitische Glaubensanhänger handelt. Das Sicherheitsgefühl müsse wiederhergestellt werden. Mit der Forderung nach einer politischen Unterstützung aus Deutschland, der Europäischen Union und der internationalen Gemeinschaft wurden wir nicht nur hier nachdrücklich konfrontiert.

Telskuf – Ein großer Militärposten der kurdischen Armee versperrte den Zugang zur Stadt und kontrollierte die Hauptzufahrtsstraße. Von den ehemals ca. 11.000 Christen waren lediglich ca. 3.500 zurückgekehrt. Doch trotz der noch bestehenden Zerstörung hatten sie ca. 1.600 Binnenvertriebene aus dem Umland aufgenommen. Auf meine Nachfrage über den Grund der hohen Militärpräsenz im Ort verwies man auf die sehr große Verunsicherung der christlichen Einwohner, die teilweise traumatische Erlebnisse hatten. In der Stadt sahen wir noch unzählige Häuser, die vom IS als „nicht-muslimisch“ gekennzeichnet waren. Die Einwohner und deren Besitz wurde damit zur Plünderung und zum Missbrauch freigeben.

Alqosh – Die Wurzeln der christlichen 40.000-Einwohner-Stadt reichen bis ins assyrische Reich. Die örtliche Kathedrale wurde im 5. Jahrhundert erbaut. Im 7. Jahrhundert wurde das Kloster Rabban Hormizd gegründet und war bis 1804 Sitz der Patriarchen. Die Truppen des IS wurden hier nur wenige Kilometer vor der Stadtgrenze aufgehalten. In der Stadt sahen wir viel christliches Leben, hörten aber auch immer wieder von der großen Angst und Hilflosigkeit in der Bevölkerung.

Die Flüchtlingssituation

Obwohl der IS offiziell seit Ende 2017 im Irak als besiegt gilt, war ich doch sehr erstaunt zu hören, dass nach wie vor über 2 Millionen Menschen als Binnenvertriebene auf die Rückkehr in ihre Heimat warteten. Davon lebten ca. 1 Million in selbst gemieteten Häusern/Wohnungen, ca. 600.000 in Camps und ca. 300.000 in Gastfamilien.

Beim Besuch des jesidischen Flüchtlingscamps in Khanke, das 2014 eingerichtet wurde, sahen wir ca. 17.000 Menschen, die in Zeltunterkünften lebten und einer ungewissen Zukunft entgegenblickten. Aus der kurzfristigen Notunterkunft wurde für die meisten eine mittelfristige Bleibe. Deshalb wurde Schulunterricht für die Kinder eingerichtet, Studenten hatten die Möglichkeit ihre Studiengänge vor Ort zum Abschluss zu bringen und Menschen suchten Arbeit, um ihr Überleben zu finanzieren. Vielen war es finanziell möglich, eigenen Wohnraum in der Stadt zu mieten. Die große Nachfrage führte jedoch schnell zu neuen Problemen aufgrund der steigenden Mietpreise. Die zusätzliche schlechte Arbeitsplatzsituation machte es vielen unmöglich, selbst für ihren Unterhalt zu sorgen. Dazu kamen große Verständigungsprobleme zwischen den meist arabisch sprechenden Binnenvertriebenen und den oft nur kurdisch sprechenden Einheimischen. Es ist nicht überraschend, dass sich viele irgendwann die Frage stellten, ob nicht ein Wegzug ins Ausland das Sinnvollste wäre. Vor allem Deutschland schien für viele ein Garant für menschenwürdiges, sicheres und gutes Leben zu sein.

Den zweiten Teil der Reise verbrachten wir in Erbil, der Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan im Irak. Dort hatten wir auch eine Nacht im Camp „Ankawa 2“ verbracht, um den Menschen und Helfern dort unsere Anteilnahme an ihrem Leben und der Arbeit zu zeigen. Hier hörten wir ebenfalls unvorstellbare Geschichten von Terror, Tod, Leid und Vertreibung. Die Menschen wünschten sich vor allem Hoffnung, Sicherheit und Wiederaufbau der Infrastruktur. Auch hier war der Ruf nach politischer Einflussnahme groß.

Kurden, Irak & die Politik

Obwohl mir die komplexe politische Situation nicht in allen Details vertraut ist, waren die Begegnungen mit verschiedenen Parlamentsabgeordneten und politischen und kirchlichen Entscheidungsträgern sehr aufschlussreich. Neben der orientalisch-dramatischen Art der Kommunikation spielten ethnische und religiöse Minderheitenfragen eine sehr große Rolle.

Nach dem kurdischen Unabhängigkeitsreferendum war die Situation zwischen der Autonomen Region Kurdistan und der irakischen Zentralregierung gespannt. Während Kurden beklagten, dass sie aus Bagdad nicht ausreichend Geld für die Bezahlung von Gehältern erhielten, verwies man uns von zentralirakischer Seite auf den ertragreichen, illegalen Ölhandel der Kurden mit der Türkei sowie die grobe Missachtung irakischer Einreisebestimmungen.

Wir erfuhren auch, dass sich viele Fragen der ethnischen Minderheiten mit der Situation der religiösen Minderheiten überschneiden. Armenische oder assyrische Volksgruppen beispielsweise gehören gleichzeitig auch zur christlichen Minderheit. Erschwerend kommt hinzu, dass diese verschiedenen Kirchen angehören, wie z.B. der chaldäisch-katholischen Kirche, der assyrischen Kirche des Ostens, der syrisch-orthodoxen Kirche von Antiochien, der syrisch-katholischen Kirche, der armenischen apostolischen Kirche oder der armenisch-katholischen Kirche sowie jüngeren evangelisch geprägten Gemeinden.

Alle, denen wir begegneten schätzten unser Interesse an der konkreten politischen Dimension zur Lösung der aktuellen Lage. Christen vor Ort seien dankbar, dass kurdische Soldaten in den letzten Jahren ihre Städte und Dörfer verteidigt hätten und der Großteil der christlichen Flüchtlinge in der Region Kurdistan Unterkunft fänden, sie aber in deren Konflikt mit der (ebenfalls moslemischen) irakischen Zentralregierung als Verlierer dastehen würden. Die Stärkung der Ninive-Ebene als eigene Provinz in der föderalen Struktur des Iraks sähe man als wichtigen Lösungsansatz. Für die Stabilisierung der Sicherheit und die Unterstützung des Wiederaufbaus von Infrastruktur und Verwaltung sei man auf die Hilfe Deutschlands, der EU, der USA und der internationalen Gemeinschaft angewiesen. Auch müsse die Geschichte und das Leben der Minderheiten in den irakischen Lehrplan aufgenommen werden.

Leben als Christ

Sehr eindrücklich waren Gespräche mit verschiedenen Christen, die aus ihrem persönlichen Leben erzählt haben. Das Wüten des islamistischen IS-Terrors markiere einen schrecklichen Höhepunkt der Christenverfolgung. Doch auch generell sei das Leben als Christ in einem moslemischen Land nicht frei von Repressionen.

Vor allem Moslems, die Christen werden, wären in einer sehr bedrohlichen Situation, da das islamische Recht für diesen „Abfall vom Islam“ die Todesstrafe fordere. Dennoch steige in den letzten Jahren die Anzahl der Menschen, die von ihren moslemischen Mitbrüdern enttäuscht sind, aus dem Islam keine Hoffnung mehr schöpfen und sich dem Gott der Bibel zuwenden. Sie würden ihren Glauben meist unauffällig leben, um ihr Leben und das ihrer Familie zu schützen. Ihnen mangele es jedoch an der notwendigen Schulung und Begleitung für die Bildung von Netzwerken an der Basis. Die von Autoritätsstrukturen geprägte Denkweise erschwere dies. Leider würden auch die ausländischen christlichen Organisationen keinen Schwerpunkt darauf legen.

Ausblick

Nach meiner Einschätzung befindet sich der Irak in einer kritischen Übergangsphase. Die Regierung ist schwach und die verschiedenen Anti-IS-Kämpfer versuchen nun, ihre eigene Machtstellung auszubauen. Auch die verschiedenen Bevölkerungsgruppen fordern primär ihre eigenen Rechte ein. Das zerstörte Vertrauen untereinander führt zu einer großen Zerrissenheit und oft mehr Gegen- als Miteinander.

Es ist jetzt wichtig, die Voraussetzungen für den Wiederaufbau des Landes und die Rückkehr der Zivilbevölkerung in die teils stark zerstörten Städte zu schaffen. Es wird viel humanitäre Hilfe geleistet, die jedoch den aktuell benötigten Bedarf nicht deckt. Die Unterstützung der irakischen Verwaltung und der Sicherheitskräfte ist noch sehr ausbaufähig und benötigt starke Partner.

Geflüchtete im Aus- und Inland sowie die Bewohner der zerstörten Gebiete brauchen nun sichtbare Zeichen der Anteilnahme und konkreten Unterstützung. Sollte es in naher Zukunft nicht gelingen das Land zu stabilisieren, die Sicherheitslage und das Sicherheitsgefühl zu verbessern, Infrastruktur und Arbeitsplätze zu schaffen, werden weitere Flüchtlingsströme Richtung Westen aufbrechen – mit verheerenden Folgen für die Region und einer unausweichlichen Verschärfung der Situation in Deutschland und Europa. Das daraus wachsende neuerliche Elend sollten wir nicht tatenlos abwarten!